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Von Erhard Brüchert
Vortrag: 8.2.2005:
Heimatverein Delmenhorst
in Hoykenkamp

Meine drei norddeutschen Heimaten

(Pommern – Ostfriesland – Ammerland)

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Meine sehr verehrten Damen und Herren!

 

1.      Was ist „Heimat“ 

Bei jeder Vorstellungsrunde oder bei einem Vortrag wie diesem pflege ich mich einleitend folgendermaßen vorzustellen: 

„Mein Name ist Erhard Brüchert, ich bin in Pommern geboren, in Ostfriesland aufgewachsen und nun seit nunmehr 35 Jahren im Ammerland/Oldenburg lebend.“

 

Von der Zahl meiner im Ammerland verlebten Lebensjahre her gesehen bin ich also zu mehr als 50 % Ammerländer.
Man – wenn ik denn anfangen do, up Platt to proten, denn marken de meesten Lü, de wat van uns Tweespraakenland in Norddüütschland verstahn doont, dat ik van de Spraak her woll ehrder een Oostfrees wesen mutt. Man – mien Moderspraak is eegentlich nich dat Oostfreeske. Mien Moder proot mit ehr 93 Johrn bit vandag meestiets Hoch, mit ´n pommerschen Drift. Mien Moderspraak is also eegentlich dat langwielige Hochdüütsch. Nee, dat Oostfreeske is mien Kinner- un Jungensspraak. Ik hebb also een „Moderspraak“ un dornäben een „Jungenspraak“. Man dorvan later noch meer.

 Was ist also meine Heimat? Dieser persönlichen Frage möchte ich mich im zweiten Teil meines Vortrags genauer zuwenden. Vorher möchte ich allgemein, abstrakt beginnen, um dann allerdings, das verspreche ich Ihnen, sehr konkret, ja, persönlich zu werden. Un Ik will allens up Hoch un up Platt seggen, so, as dat passen deiht.

 Damit habe ich mich auch schon den beiden Aspekten von „Heimat“ zugewendet, die am offensichtlichsten sind: dem Aspekt des Ortes, der Geographie – wir sprechen ja auch von „Vaterstadt“ und „Vaterland“ – dieser Aspekt ist also männlich-patriarchalisch besetzt - und dem Aspekt der Sprache – hier heißt es interessanterweise immer aufs Weibliche bezogen: die „Muttersprache“ und die „Mutterliebe“, obwohl in meinem Falle, die Mutter nur eine meiner beiden Kernsprache bestimmt hat, nämlich das Hochdeutsche. Das Plattdeutsche dagegen wurde bei mir vom Ort, von unserem Flucht-Zielort Ostfriesland her, festgelegt – und zwar hauptsächlich durch meine dortigen, ostfriesischen Spielgefährten. Also besitze ich neben der hochdeutschen Muttersprache auch eine plattdeutsche Kinder- und Jugendsprache, aus der ich übrigens später und bis heute ein reges germanistisches Interesse entwickelt habe.

Was also bedeutet Heimat überhaupt? Wo kommt der Begriff her? Und welchen Bedeutungswandlungen war er in den letzten Jahrhunderten besonders in Deutschland unterworfen?

 

Das sind die Kernfragen, denen ich mich hier einleitend in allgemeiner Weise mit weitgehend historischen Fragestellungen und Antworten widmen möchte, bevor ich dann im Hauptteil meines Referates in durchaus persönlicher Art und Weise und mit den entsprechenden Bezügen und Beispielen über meine eigenen „drei Heimaten“ nachdenken möchte. Natürlich kann und will ich dabei meine historischen und abstrakten Überlegungen nicht ausklammern, aber ich glaube, dass jeder Mensch – besonders, wenn er langsam aber sicher älter wird – eine Neigung, ja, Sehnsucht, danach verspürt, nach seinen eigenen Wurzeln zu graben und diese, wenn er sie gefunden hat, in einen spezifischen Lebens- und Erfahrungsrahmen zu stellen. Wobei das Fragen nach der eigenen Heimat ja nach 1945 lange Zeit bei uns verpönt war, weil der Begriff alleine schon – wie so viele in Deutschland – durch die Nazizeit pervertiert worden war. Inzwischen hat gerade die Europäische Einigung uns die Möglichkeit verschafft, den Begriff „Heimat“ wieder auf seine humanen, ja, zeitlosen Dimensionen zurückzuführen. 

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Nach der Definition des Etymologischen Wörterbuchs von Kluge-Götze,  - das ich als Germanist seit über vierzig Jahren mit mir herumschleppe - wird das Wort „Heimat“ vom ahd. „heimoti“, mhd. „Heimot“, mnd. „hemode“ abgeleitet und bedeutet schlicht und einfach „Grundbesitz“. Dazu gehört eine ältere germanische Wurzel „haima“ mit der Bedeutung „Heimat eines Stammes“, vgl. mnl. „heem, heim“ = „Wohnplatz, Erbe“, engl. „home“, anord. „heimr“ = „Wohnung, Welt“.

 

Erst im christlichen Mittelalter entstand dazu die Metapher von der „himmlischen Heimat“, nach der alle Menschen zu streben hatten, obwohl sie keiner hier im irdischen Jammertal je kennengelernt hat.

 

Und erst in der Epoche der Romantik im 19. Jahrhundert wurde jener sentimentale Heimatbegriff geboren, der bis heute in der Regenbogenpresse und in der großen  Volksmusikszene nachwirkt – den aber auch, seien wir ehrlich, fast jeder von uns irgendwo in seinem Herzen trägt. Joseph von Eichendorff hat zum Beispiel mit seinem berühmten, bekannten Gedicht „Abschied“ stilbildend gewirkt:

 

O Täler weit, o Höhen,
o schöner, grüner Wald,
du meiner Lust und Wehen
andächtger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen
Saust die geschäft’ge Welt,
Schlag noch einmal die Bogen
Um mich, du grünes Zelt!

 

Aber die Romantiker besangen ja meist etwas, was ihnen fehlte oder was sie verloren hatten: Liebe, Naturschönheit und auch Heimat. Eichendorff musste zum Beispiel  sehr früh das Schloss Lubowitz, den Heimat-Ort seiner Kindheit, verlassen – und genau daran erinnert er sich auch in seinem Gedicht „Abschied“. Und in seinem Gedicht „Heimweh“ drückt er dies Verlassenheits- und Verlustgefühl direkt aus: 

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Was wisset ihr, dunkle Wipfel,
Von der alten, schönen Zeit?
Ach, die Heimat hinter den Gipfeln,
Wie liegt sie von hier so weit!

 

Auch das sogenannte „Pommernlied“ des Theologen und Pädagogen Gustav Adolf Reinhard Pompe (1831 – 1889) gehört in diese heimwehkranke, romantische Phase des Heimatbegriffs. In den ersten beiden Strophe heißt es dort:

 

Wenn in stiller Stunde Träume mich umwehn,
Bringen frohe Kunde Geister ungesehn,
Reden von dem Lande meiner Heimat mir,
Hellem Meeresstrande, düstern Waldrevier.
Weiße Segel fliegen auf der blauen See,
Weiße Möwen wiegen sich in blauer Höh’,
Blaue Wälder krönen weißer Dünen Sand:
Pommernland, mein Sehnen ist dir zugewandt.

 

Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfuhr der Heimatbegriff in Deutschland aber eine folgenreiche politische Prägung: Die Kraft der romantischen Heimat-Innigkeit wurde von den Politikern dazu ausgenutzt, um einem nach Einheit strebenden deutschen Volk eine politische Zielrichtung vorzugeben. Aus der naiv-romantischen Heimat- und Vaterlandsliebe wurde preußisch-deutscher Patriotismus und schließlich Wilhelminischer Nationalismus. Und nach dem verlorenen 1. Weltkrieg, der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, war der Weg zu einer nationalsozialistischen Ideologie mit Rassismus, Antisemitismus und Völkerhass dann nicht mehr weit, wobei dem alten, deutschen Heimatbegriff die Scheuklappen von „Blut und Boden“, „deutsch-völkischer Gesinnung“ und „germanischer Rassereinheit“ angeklebt wurden.

 

Unser Oldenburger Ehrenbürger August Hinrichs ist ja auch ein bekanntes Beispiel für die Verführbarkeit der sogenannten Heimatdichter, gerade auch der plattdeutschen, durch den Nationalsozialismus. August Hinrichs hat wunderbare, klassische Komödien auf Plattdeutsch geschrieben, aber er war auch Landesleiter der Reichsschrifttumskammer in Oldenburg und Verfasser von „Stedingsehre“, jenem Kultspiel der Nazis, welches nicht weit von hier, in Bookholzberg, im großen Freilichttheater vor Hunderttausenden von Menschen aufgeführt wurde. Im Wesentlichen hat er mit hinhaltenden Bemühungen um die Verhinderung von Schlimmerem gewirkt, das heißt, er hat auch seine jüdischen und sozialdemokratischen Freunde, wie Wilhelmine Siefkes aus Leer, beschützt. Allerdings muss man Hinrichs heute doch eine gehörige Portion Naivität, ja, teilweise Blindheit, gegenüber den antihumanen, verbrecherischen Aspekten der Nazis unterstellen. Und diese leichtsinnige Haltung von Hinrichs war bedingt durch seinen leutseligen, eigentlich gänzlich unpolitischen Heimatbegriff, der tief in der plattdeutschen Sprache verwurzelt war. Viele Deutsche, und auch Hinrichs, haben damals wohl nicht begriffen, dass man durch die Politisierung und Ideologisierung von Heimat und Sprache – und deren Pervertierung zu „völkischem Denken“ – andere, angeblich fremde Menschen angreifen, ausgrenzen und sogar töten kann.

 

Ich möchte jetzt diesen deutschen, schrecklichen und hoffentlich einmaligen  „Sonderweg“ nicht überbetonen und auch nicht weiter auswalzen, ich bin auch kein Anhänger der These von dem direkten, deutschen Weg von Luther über den Alten Fritz und Bismarck bis Hitler – ich glaube eher, dass die Nazizeit eine finstere Neben- und Sackgasse war, aber es bleibt eine traurige Tatsache der deutschen Geschichte, dass auch der Heimatbegriff von den Nationalsozialisten verhunzt und ideologisiert worden ist, so dass man fast die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik mit „Heimat“ relativ wenig anzufangen wusste. Unsere berühmten „Achtundsechziger“, zu denen ich mich alters- und studienmäßig ja auch zählen muss, haben mit ihrer radikalen und häufig überspitzten Kritik an der Gesellschaft und Politik der von Konrad Adenauer stabilisierten Bundesrepublik auch alle alten Begriffe wie „Heimat, Volk, Kultur, klassische Wert“ über Bord geworfen – ohne dass sie deren Missbrauch und Pervertierung durch die Nazis gründlich durchdacht und analysiert hatten. Das hat sich nun glücklicherweise im Rahmen der europäischen Einigung wieder grundlegend geändert. Und erstaunt reiben sich unsere inzwischen alt gewordenen Achtundsechziger die Augen, wenn sie mit einer lebendigen, jahrhundertealten Heimatkultur und Folklore in Schottland, Kastilien, der Toskana oder Südfrankreich im Urlaub konfrontiert werden.

 In der Weltliteratur weiß man seit langem, dass niemand authentisch schreiben kann, wenn er nicht einen klar umrissenen Heimatbegriff hat. Jack London ist nicht denkbar ohne San Francisco, James Joyce nicht ohne Dublin, Heinrich Böll nicht ohne Köln, Günter Grass nicht ohne Danzig, Uwe Johnson nicht ohne Güstrow und Elfriede Jellinek nicht ohne Wien.

 Man kann nicht von sich und seiner Welt schreiben, auch nicht literarisch, wenn man nicht örtlich, menschlich und sprachlich – und damit heimatlich – konkret etwas beschreiben kann.

 Diese Neubesinnung auf den Heimatbegriff in seiner urprünglich naiven, aber auch humanen, ja, zeitlosen Form ist heute endlich wieder im vollen Gange. Sie ist zweifellos verbunden mit der Entwicklung und Stabilisierung einer offenen Zivilgesellschaft in einem größeren Europa, das sich den klassischen Grundsätzen der Antike, des Christentums, der Renaissance und Aufklärung und der Französischen Revolution verpflichtet fühlt.

 Ich werde im Schlussteil diese Linie noch weiterverfolgen und dann versuchen, mit vier Dimensionen eines modernen Heimatbegriffs für das 21. Jahrhundert in Europa und Deutschland das Thema abzurunden.  

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2.      Meine „Geburts-Heimat“ Pommern

 

Nun möchte ich aber zunächst mal konkret-biographisch werden und auf meine erste, meine Geburts-Heimat Pommern zu sprechen kommen. Ich bin 1941 im Dorf Schlönwitz in der  schönen, hinterpommerschen Eiszeit-Hügel-und-Seen-Landschaft zwischen Kolberg und Stettin geboren. Meine Mutter schwärmt noch heute von der „Pommerschen Schweiz“. Ich selber habe nur noch schwache Erinnerungen an diese Landschaft; es sind dies meine ersten Erinnerungen als Vierjähriger mit spannenden  Spielen am See und auf dem Bauernhof, die allerdings auch verbunden sind mit ersten Schmerzerfahrungen bei einem Beinbruch. Dies alles wird dann aber überlagert durch die Erinnerungen an unsere Flucht aus Pommern, genauer gesagt, an unsere dreimaligen Fluchtversuche von 1945 bis 1946, die dann schließlich mit der Ankunft meiner Mutter und ihrer drei Kinder in Ostfriesland endeten.

 Die Ruhelosigkeit, Gefährdung und Verlassenheit dieser Zeit drückt für mich heute am besten das Gedicht „Radwechsel“ von Bertolt Brecht aus:

 Bertolt Brecht

 

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Radwechsel

 

Ich sitze am Straßenhang.

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel

Mit Ungeduld?

 

Aber dieses Bewusstsein hatte ich natürlich noch nicht als Vier/Fünfjähriger – nein, für mich ist „Pommern“ immer noch ein Hort meiner sicheren ersten vier Lebensjahre, wobei dann aber im fünften Jahr, mit dem ich schon ein volles, eigenständiges Bewusstsein verbinde, das Gefühl von „Pommernland ist abgebrannt“ hinzukommt.

 

Was verbinde ich nun heute noch mit Pommern? Ist das überhaupt noch eine „Heimat“ für mich?

 

Ich möchte Pommern nach wie vor als meine erste, meine Geburtsheimat bezeichnen, weil dies eine Tatsache ist und weil meine ersten Erinnerungen als Kind und als Mensch überhaupt, der sein eigenes Bewusstsein entwickelt, mit diesem ehemals deutschen Landstrich verbunden sind. Ich verbinde aber keinerlei Emotionalität mit „Pommern“, was zum Beispiel völlig anders bei meiner Mutter ist, die noch täglich von ihrer „Heimat“ spricht. Im Gegenteil, ich gehöre zu den voll in Westdeutschland aufgewachsenen und integrierten Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, die keinerlei revanchistische Gefühle gegenüber Polen verspüren und nicht im Traum daran denken, jemals in ihre Geburtsheimat zurückzukehren. Ich habe diese, meine erste Heimat, inzwischen natürlich auch schon als Tourist besucht, dabei aber keinerlei Wehmutsgefühle bei mir entdeckt. Das hängt natürlich alles auch eng zusammen mit der gelungenen Integration von uns Vertriebenen nach dem Krieg – bei mir durch Heirat und Familiengründung in Ostfriesland, durch Lastenausgleich, Studien- und Berufsförderung – eine Entwicklung, die von den Historikern ja auch als eine der großen Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik gewürdigt wird. Und ohne die Versöhnung mit Polen, die hiermit verbunden ist, wäre die EU in der heutigen Form ja auch nicht denkbar.

 

Trotzdem ist meine Geburtsheimat mir immer präsent; und ich werde niemals aufhören, die Geschichte des ehemals Deutschen Osten zu betrachten und zu erforschen. Aber ich habe keinen Funken von Verständnis für eine wirtschaftlich orientierte Gruppierung wie die „Preußische Treuhand“, welche in frecher, geschichtsloser Art und Weise Entschädigungszahlungen von den Polen verlangt. Wer so anfängt, den Begriff „Heimat“ erneut zu instrumentalisieren, wandelt wahrhaftig auf den schon verweht geglaubten Spuren des deutsch-faschistischen Sonderweges.

 

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3.      Meine „Kindheits-Heimat“ Ostfriesland

 

Ich möchte mich nun meiner zweiten Heimat Ostfriesland zuwenden, wo ich von 1946 bis zum Ende meines Studiums im Jahre 1968 mit erstem Wohnsitz gelebt habe und aufgewachsen bin. Ich möchte Ostfriesland als meine „Kindheits- und Sprachheimat“ bezeichnen. Dazu möchte ich Ihnen einleitend dieses Foto zeigen:

 

Die Redaktion des Ostfriesland Magazins, wo ich freier Mitarbeiter bin, schickte mir zu Weihnachten 2004 diese Karte mit einem wunderschönen, einfachen Foto der Deichlinie bei Utlandshörn in der Westermarsch. Das Foto zeigt nur eine eintönige Schneelandschaft mit der nach links geführten Deichlinie, der asphaltierten Auffahrt über den Deich, der Deich-Not-Straße landseitig, einem einzelnen „Bummert“, d.h. einem alleinstehenden, ehemaligen Land- oder Deicharbeiterhaus. Darüber steht ein großartiger, weiter ostfriesischer Himmel mit einer Winter-Schönwetter-Wolke, hinter der die untergehende Sonne wie eine Monstranz strahlt. Von der Nordsee und dem Wattenmeer ist praktisch gar nichts zu sehen – nur am rechten Bildrand kann man auf ca. einem halben Quadratzentimeter ein ganz klein bisschen das Wattenmeer bei Ebbe erahnen.

 

Dieses Foto berührt mich tief, bei längerem Anschauen kriege ich einen Kloß im Hals  – und ich frage mich, warum das so ist? Ich habe inzwischen im Laufe meines Lebens viele fantastische, großartige Landschaften auf dieser Welt gesehen, vom Gran Canyon, den Niagara-Fällen über die norwegischen Fjorde, die Alpengipfel, die Big-Sur-Küste in Californien bis hin zu Vulkanlandschaften des Ätna, des Vesuv, auf Hawai oder auf Teneriffa. Ich habe auch viele, herrliche Dias davon im Schrank. Aber beim Anschauen keiner dieser herrlichen, fremden Landschaften bekomme ich einen Kloß im Hals.

 

Warum also hier, bei dem Foto von der Deichlinie in Utlandshörn? Natürlich liegt das daran, dass ich hier meine entscheidenden Kindheitsjahre von fünf bis elf Jahren verbracht habe: Im Ortsteil Itzendorf in der Westermarsch – in einer ehemaligen Baracke für Fremdarbeiter, in die nach dem Krieg Flüchtlinge und Vertriebene einquartiert wurden. Erst 1952 gelang uns der Bau eines kleinen Siedlungshäuschens in Norden, wo ich bis zum Ende meiner Gymnasialzeit 1961 lebte.

 

Die Antwort ist für mich klar: Hier, am Deich vor der Westermarsch lernte ich schwimmen, hier, am Deich, auf der dünnen Schneedecke fuhren wir Schlitten, denn andere Berge gibt es ja bekanntlich nicht in Ostfriesland; hier, am Deich, landseitig, auf den zugefrorenen, flachen „Lechten“ lernte ich Schlittschuhlaufen, das ostfriesische Schöfeln; hier, auf diesem Deich, habe ich als Junge mit meinem Bruder eine lange Nachtwanderung bei Vollmond von Norddeich bis nach Greetsiel gemacht, wobei wir gegen Morgen dann todmüde in einem Heuschober eingeschlafen sind; hier, am Deich, habe ich auch zum ersten Mal ein Mädchen geküsst, eine blonde Ostfriesin natürlich – allerdings erst mehrere Jahre nach 1952.

 

Und wenn ich hin und wieder mal hier in Utlandshörn heute noch eine Radtour mache oder auf Inlinern die schöne, glatte, fast autofreie Deich-Not-Straße entlang gleite – von Norddeich nach Leybuchtsiel und zurück – wenn ich dann hier auf dem Deich stehe, mich gegen den starken Westwind anlehne, den Salz- und Modergeruch des Wattenmeeres rieche und dazu das frischgemähte Heu auf den Marschwiesen, dann spüre ich auch sinnlich-körperlich, dass ich an diesem äußerlich so eintönigen Fleckchen Erde „zu Hause“ bin.

 

Dieses Bild offenbart mir also meine Sekundär-Heimat in einem ganz emotionalen Eindruck, der durch alle meine Sinne verstärkt und geprägt wird.

 

Es ist also ganz offensichtlich: Das eigene Heimatgefühl hängt primär mit Kindheitsprägungen zusammen, von denen sich kein Mensch trennen kann. Es mag wohl so zugehen wie bei dem berühmten Experiment des Naturforschers Konrad Lorenz mit seinen Graugänsen: Jeder Mensch nimmt zu allererst die Region als „Heimat“ an, wo er die wichtigsten Kindheits- und Prägejahre verbracht hat, ganz egal, ob er diese Gegend im späteren Leben auch noch als angenehm, attraktiv, ja, lebenswert empfindet. Es würde mir nämlich heute niemals einfallen, mir in Utlandshörn ein Haus zu bauen und hier auf Dauer zu leben – dazu ist die Gegend für mich heute doch zu einsam und abgelegen. Ich würde also jetzt, nachdem ich mir noch eine dritte, eine „Lebens-und-Berufs-Heimat“ erschlossen habe, keineswegs in meine zweite, meine „Kindheits-Heimat“ zurückkehren wollen.

 

Und doch liebe ich sie in einem ganz ursprünglichen, rational nicht zu erklärenden Sinne – eben: aus dem Bauch heraus. Und ich werde sie immer wieder besuchen. Die erste, die Kindheits-„Heimat“ kann also auch „Utlandshörn“ sein.

 

Übrigens fällt mir zu diesem schönen Foto das Gedicht „Abend in Skane“ von Rilke ein, in dem zwar das Wort „Heimat“ nicht vorkommt, das aber sehr genau die Intensität einer Landschaft, eines Ortes einfängt, den man als „Heimat“ erfahren hat. Für mich ist deshalb „Abend in Skane“ auch ein Heimatgedicht, das ich sogar direkt auf mein „Utlandshörn“ übertragen kann: 

 

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Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

 

ABEND IN SKANE

 Der Park ist hoch. Und wie aus einem Haus

tret ich aus seiner Dämmerung heraus

in Ebene und Abend. In den Wind,

denselben Wind, den auch die Wolken fühlen,

die hellen Flüsse und die Flügelmühlen,

die langsam mahlend stehn am Himmelsrand.

Jetzt bin auch ich ein Ding in seiner Hand,

das kleinste unter diesen Himmeln. – Schau:

 

Ist das Ein Himmel?:

Selig lichtes Blau,

in das sich immer reinere Wolken drängen,

und drunter alle Weiß in Übergängen,

und drüber jenes dünne, große Grau,

warmwallend wie auf roter Untermalung,

und über allem diese stille Strahlung

sinkender Sonne.

 

Wunderliches Blau,

in sich bewegt und von sich selbst gehalten,

Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten

und Hochgebirge vor den ersten Sternen

und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,

wie sie vielleicht nur Vögel kennen...

 

 

4.      Meine „Sprach-Heimat“ Ostfriesland

 Ostfriesland – und nicht zuletzt auch gerade die einklassige Volksschule in Itzendorf, gleich um die Ecke bei Utlandshörn – ist für mich aber auch meine zweite Sprach-Heimat. Hier hebb ik ostfreesk Platt proten leert – bi mien ostfreesk School- un Spälkameroden in de Westermarsch. Ik bün blied, dat ik twee düütsche Spraaken kann – un vandag kann ik tja up Plattdüütsch ok nett so goot proten as ok schrieven. Man dat Schrieven, dat plattdüütsch Schrieven hett mi nich Mester Daniels in de Volksschool Itzendörp leert – nee, dat geev dat domols tja noch nich  – dat hebb ik mi meestendeels sülben bibrocht, un dat ok eerst as ik al laang een utwussen Keerl weer.

 

Man dat is weer een annern Vertellsel – un ik wull hier tja man blots van mien Spraak-Heimat proten. Ok mit mien tweede Spraak, dat Plattdüütsche gung da nich altiet liekut – nee, as ik na Nörden up dat Ulrichs-Gymnasium kweem, dat weer in dat Johr 1952, dor  weer dat eerstmol toenn. Up ´t Gymnasium hett in de Fieftiger Johr keen Mester  plattdüütsch proot, dat weer ok in Ostfreesland een Tabu: Plattdüütsch hollen besünners de Düütschmesters domols noch för een minnerhaftigen Spraak, de dat Hochdüütsche un de „Bildung“ överhaupt runnertrecken kunn! Dat hebbt se domols meent – man, dat meenen wi, de « modernen » Düütschmesters vandag nich meer!

 

Un as ik denn in Marburg un Göttingen Student för Germanistik un Geschichte weer  – dat Gymnasium in Nörden hett mi so goot gefullen, dat ik sülben Düütsch- un Geschichtsmester worrn bün – dor hebb ik up twee Oorten weer Togang to dat Plattdüütsche funnen: Up de een Siet hebb ik Professor Wesche in Göttingen kennenleernt, de Seminare för nedderdüütsche Spraakgeschichte un Literatur gäben dee – un dor hebb ik denn ok mitmakt – un up de anner Siet, un dat is klorerwies völ bedütsamer, hebb ik in Göttingen mit een blonnen Oostfreesen-Wicht tosommen studeert, de later ok mien Fro worrn is. Un dit Oostfreesen-Wicht hett een groten Oostfreesen-Verwandtskup, de noch altiet bit vandag ünnernanner düchtig Plattd üütsch proten deiht. Jo, un bi disse Verwandtskup föhl ik mi denn weer so as up de Schoolhoff in Itzendörp tüschen al mien oostfreesk Mackers.

 

Zum Thema „Heimat und Sprache“ aber hier noch ein Wort aus germanistischer Sicht: In Deutschland lassen sich seit dem frühen Mittelalter ober-, mittel- und niederdeutsche Mundarten unterscheiden. (Siehe Sprachenkarte.) Das Niederdeutsche spielt dabei aber streng genommen eine Sonderrolle, weil es die hochdeutsche, zweite Lautverschiebung zur Völkerwanderungszeit nicht mitgemacht hat. Das Nieder- oder Plattdeutsche hat deshalb bis heute noch den phonologisch und morphologisch belegbaren Charakter einer eigenständigen Sprache, obwohl es seit dem Ende der Hansezeit im 16. Jahrhundert in Entsprechung zu seinem tatsächlichen Gebrauch und in seiner Beziehung zur Standardsprache Hochdeutsch realistischerweise als Dialekt einzustufen ist. Es gibt also bis heute im deutschen Sprachgebiet sowohl ober- und mitteldeutsche Dialekte – Bairisch, Schwäbisch, Alemanisch, Hessisch – als auch niederdeutsche, norddeutsche Mundarten nördlich der Benrather Linie, zum Beispiel Westfälisch, Ostfälisch, Ostfriesisch, Oldenburgisch, Holsteinisch, Mecklenburg-Vorpommersch. Die plattdeutschen „Mundarten“ müssen aber auch deshalb heute härter um ihre Existenz kämpfen als die hochdeutschen, weil es die allgemein anerkannte, niederdeutsche Standardsprache („das Niederdeutsche“) eigentlich ja gar nicht gibt. Sie hat sich politisch und kulturell leider nie entwickeln können. Selbst die überregionale Hansesprache im Spätmittelalter macht in diesem Punkt – als eine tendenziell schriftsprachliche Kaufmanns- und Verkehrssprache – keine Ausnahme. Ihr fehlte besonders die kulturelle, literarische und auch religiöse Komponente, wie sie etwa die neuhochdeutsche Sprache durch Martin Luthers geniale Bibelübersetzung erfahren hat. Stattdessen sieht sich der plattdeutsche Mundartsprecher von heute ständig in Relation, wenn nicht gar in Konkurrenz zur eigentlich fremden Standardsprache Hochdeutsch. Nur eine selbstbewusste Zweisprachigkeit kann dieses Dilemma in Norddeutschland lösen. Und eine solche Zweisprachigkeit kann auch zu einem bewussten, verstärkten norddeutschen Heimatgefühl beitragen – wie ich es selber in meiner Biographie belegen kann.

 

Nicht erst die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges mit ihren völkerwanderungsartigen Menschen-, Flucht- und Sprachvermischungen haben den Mundarten in Deutschland sehr geschadet. Ostpommersch, Ostpreußisch und auch Schlesisch werden wohl bald ausgestorben sein. Schon seit Beginn der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert war in Deutschland eine Tendenz zu beobachten, die auf Normung, Funktionalisierung, Vereinheitlichung und Bürokratisierung aller Erscheinungsformen des Lebens – und damit auch der Sprache – abzielten. Parallel dazu verlief zunächst die Politisierung, dann die Pervertierung und schließlich die Entwertung des Heimatbegriffs.

 

Erst um 1970 verstärkte sich ein gesellschaftliches Bewusstsein um die „Grenzen des Wachstums“, das seinen Niederschlag fand in einer allgemeinen Rückbesinnung auf den kulturhistorischen und heimatlichen Identifikationswert von regionalen Nahsprachen und Dialekten und ihrer aktuellen Bedeutung bei der Kompensierung von entfremdenden Tendenzen in der Standardsprache Hochdeutsch. Man sollte diese neue Einschätzung nicht als Flucht in die Idylle abtun oder als Rückkehr zu romantischen Heimatgefühlen diffamieren. Das wäre nach den geschichtlichen Erfahrungen der letzten 200 Jahre falsch und ungerecht. Parallel zu dieser Wiedergutmachung an Heimat, Plattdeutsch und Region verstärkte sich eben auch die politische, wirtschaftliche und kulturelle Attraktion der Europäischen Union. Es zeichnet sich heute deutlich ab, dass der europäische Gedanke sich durchaus verträgt mit einem sprachlich, heimatlich und historisch fundierten Regionalismus. Die meisten Städte und Gemeinden in der Bundesrepublik pflegen heute ja auch liebevoll ihre Beziehungen zu Patengemeinden, die oft in abgelegenen, befreundeten Regionen in England, Belgien, den Niederlanden oder Frankreich liegen. Auch Theateraufführungen von Dialekt-Heimatbühnen werden gegenseitig vorgeführt und – wenn sie dem nordeuropäischen Sprachenkreis zugehören – in der Regel auch in Norddeutschland gut verstanden, zum Beispiel bei niederländischen, flämischen, englischen, dänischen oder schwedischen Amateur-Aufführungen. Dabei kann einem dann wieder bewusst werden, dass zum Beispiel der gesamte Wortschatz der schwedische Sprache zu rund fünfzig Prozent aus der mittelniederdeutschen Hansezeit stammt.

 

In vielen europäischen Staaten ist Zwei- oder Mehrsprachigkeit viel mehr als bei uns eine Realität und verträgt sich dort durchaus mit dem Heimatgefühl. Beispiele für eine weitgehend gelungene Toleranz von Sprache, Kultur und Politik bietet der Kanton Graubünden in der Schweiz, wo das Schwizzerdütsch neben den rätoromanischen Dialekten als Restsprache existiert. Auch in Luxemburg stehen relativ konfliktfrei nebeneinander: a) die Amtssprache Französisch, b) die Umgangssprache Letzeburgisch als ein moselfränkischer Dialekt, aber durchaus im Range einer Schriftsprache und c) die Verkehrssprache Deutsch mit ihrer wirtschaftlichen und nachbarlichen Bedeutung. Im Elsaß ist das Nebeneinander von alemannischer Mundart und französischer Amts- und Schulsprache nicht immer ganz reibungslos. Ähnliches muss gelten für Südtirol (südtiroler Mundart, Ladinisch neben Italienisch), für Belgien (Wallonisch neben Flämisch im Konflikt bis hin zur Regierungskrise des Gesamtstaates) und auch für den Kanton Bern in der Schweiz (Teilung in die alemannische „Deutschschweiz“ und die französische „Welchschweiz“).

 Es lässt sich also feststellen, dass der abwechselnde Gebrauch von mehreren Sprachen oder Dialekten zwar manchmal politisch – und auch kommunikativ – schwierig und anstrengend ist, aber weder kulturell noch intellektuell für irgendeinen Menschen schädlich sein muss. Und auch dem Heimatgefühl tut das keinen Abbruch.

 Diese Erkenntnis setzt sich nun ja auch langsam bei den deutschen Lehrerinnen und Lehrern durch, nachdem vorher jahrzehntelang die Mundarten als ein Hemmschuh für die Schul- und Sprachenbildung angesehen wurden.

 Un in dat Johr 1969, also een Johr na de „Achtunsechziger Revolutschon“, sünd wi beid – dat blonne Oostfreesen-Wicht un ik – as nu ok verheiroot Jung-Mester-Poor na Friedrichsfehn int Ammerland trucken.  Mien Fro  gung an de Orientierungsstufe in Friedrichsfehn un ik an dat neegründt Gymnasium Eversten in Ollnborg. Un wi hebbt een Familje gründt mit twee moije Kinner, een Wicht un een Jung. Leider is mien Fro al in dat Johr 1998 stürben.

 Mien twee Kinner nömen sük sülben „Ossi-Pommeranzen“ – offschon se tja eegentlich Ammerlänner sünd, jedenfalls van hör „Kinnertiet-Heimat“ her. Man in dat Utland – se läben nu beid in Brüssel un in Berlin – seggen se altiet, dat se „Ollnborger“ sünd, so as de Peer! Up jeden Fall worrt dat bi mien Kinner noch sturder as bi mi, wenn se mol later na hör „Heimatbegreep“ söken doont. Up jeden Fall sünd mien Kinner ok tweespraakig upwussen – un mien Dochter is in Brüssel as Juristin bi de EU-Kommission anstellt un is blied, dat se dor so gau Nedderlännisch un Flämisch verstahn un leern kunn, wieldat se al Plattdüütsch proten kunn.

 

To mien eegen Spraak-Heimat höört obers nu ok dat Ammerland un Ollnborg. Ik läv nu tja siet 36 Johr hier un hebb dat Platt, dat ´n bäten anners is as dat Oostfreeske, in de Tüschentiet ok goot mitkrägen. Ik weet, dat dat hier „snacken“ heet, un nich „proten“, dat se „wietergahn“ (un nich „wiedergahn“), dat se „us“ un nich „uuns“, dat se „woller“ un nich „weer“ seggen.

 

Man, wenn ik allens tosommen bedenken do, denn bün ik doch blied, dat ok för mi noch Fritz Reuter sien oole Gedicht gellen kann - dat Gedicht van de plattdüütsch Eekenboom, off „Eikbom“, as dat up Pommersch heeten deiht:

 Fritz Reuter

 

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IK WEIT EINEN EIKBOM...

 Ik weit einen Eikbom, de steiht an de See,

De Nurdstorm, de brus’t in sin Knäst;

Stolt reckt hei de mächtige Kron in de Höh,

So is dat all dusend Johr west;

Kein Minschenhand,

De hett em plan’t;

Hei reckt sik von Pommern bet Nedderland.

 

Ik weit einen Eikbom vull Knorrn un vull Knast,

Up den’n fött kein Bil nich un Äxt.

Sin Bork is so rug, un sin Holt is so fast,

As wir hei mal bannt un behext.

Nicks hett em dahn;

Hei ward noch bestahn,

Wenn wedder mal dusend von Johren vergahn.

(...)

„Un doch gräunt so lustig de Eikbom up Stun’ns,

Wi Arbeitslüd’ hewwen em wohrt;

De Eikbom, Herr König, de Eikbom is uns’,

Uns’ plattdütsche Sprak is ’t un Ort.

Kein vörnehm Kunst

Hett s’ uns verhunzt,

Fri wussen s’ tau Höchten ahn Königsgunst.“

 

5.      Meine „Lebens-und-Berufs-Heimat“
Ammerland - Oldenburg

 

Mit Stütt un Stöhn van de Ollnborgische Landskup un van de Spieker-Heimatbund bün ik ok alltiet ´n bäten meer an dat plattdüütsche Schrieven rankoomen un hebb enkelke Theoterstücke, Hörspeele un plattdüütsche Bööker  rutgäben. Un dormit bün ik nu ok bi mien darte Heimat anlangt – un dat is mien „Läbens- un Berufs-Heimat Ammerland-Oldenburg“.

 

Mein Berufsleben ist also mit Oldenburg verbunden, das meiner verstorbenen Frau mit Friedrichsfehn und dem Ammerland. Parallel dazu verlief unsere Familiengründung mit den beiden Kindern. Wir hatten auch das Glück, das diese Lebens-und-Berufs-Phase an einem gleichbleibenden Wohnort und sogar im gleichbleibenden, in Friedrichsfehn erbauten Haus stattfand. Diese Tatsache fördert die Heimatbindung zweifellos ungemein, zumal wenn sie auf freiwillig und gern gewählten Umständen zurückzuführen ist. Aber bei mir wäre das oldenburgische Heimatgefühl als meiner dritten und letzten Heimat nicht so gewachsen, wenn ich es nicht stets mit dem Plattdeutschen und damit mit meiner zweiten, der Sprachen-Heimat hätte verbinden können, die ich aus Ostfriesland mitgebracht habe. Auch meine aktive Teilnahme an der Niederdeutsch-Pflege in Vereinen, in der Oldenburgischen Landschaft und im Spieker-Heimatbund für niederdeutsche Kultur hat wesentlich dazu beigetragen.

Siet een Johr bün ik nu ok de tweede Spieker-Baas, achter Jürgen Hennings ut Tüschenahn. Un in de Vörstand van us Spieker schall ik woll noch völ Arbeit kriegen – man dat makt nix, ik bün tja jüst frisch pensioneert un hebb in de School nix meer an de Hacken. Man aff un an will ik ok dat plattdüütsche Schrieven, besünners för dat Theoter, nich vergäten.

Und wenn ich nun heute nach meiner „Heimat“ gefragt werde, dann nenne ich klarerweise sofort meine dritte, meine jetzige Lebens-und-Berufs-Heimat Oldenburg-Ammerland, obwohl ich hier weder geboren noch aufgewachsen bin.

Wenn ich aber länger über alles nachdenke, dann komme ich auf „meine drei Heimaten“ und wenn Sie mir noch mehr Zeit geben, dann halte ich diesen Vortrag!

 

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6.      Schluss-Reflexionen

 

Welche der drei Heimaten ist mir nun die wichtigste? Kann ich überhaupt eine Rang- oder Reihenfolge, außer in zeitlicher Hinsicht, dazu aufstellen?

 

Diese Fragen kann und möchte ich eigentlich auch gar nicht so eindeutig beantworten. Ich will einer Bewertung meiner drei Heimaten lieber aus dem Wege gehen – um keiner der Dreien weh zu tun! Stattdessen möchte ich lieber das folgende Resümmeé ziehen, welches sich für mich sowohl aus der theoretischen Betrachtung eines modernen, heutigen Heimatbegriffs im Rahmen eines größeren Europa ergibt, als auch aus meiner eigenen Biographie:

 

Heimat

(in der „Offenen Gesellschaft“ des 21. Jhs.)

 

 

1.   Heimat ist  >>>  Ort:

„Heimat“ kann immer nur ein erlebter geographischer Ort sein (oder in zeitlichen Lebens-Abständen auch mehrere Orte), der von mir – unter Berücksichtigung der anderen drei Aspekte – frei gewählt, aber auch nur akzeptiert und im günstigsten Falle auch geliebt werden kann. Dieser Ort muss nicht der Geburtsort sein.

 

2.   Heimat ist  >>>  Sprache:

Der jeweilige „Heimat-Ort“ ist stets mit einer individuellen Sprachfärbung verbunden, die von der Standardsprache dominiert und doch regional und dialektal unterlegt sein kann. Das bezieht sich besonders auf die mündliche Umgangssprache.

 

3.   Heimat ist  >>>  Du, Ich, Wir:

„Heimat“ ist immer verbunden mit Aufbau, Entwicklung und auch Veränderung in familiären und freundschaftlichen Lebens-Nahbereichen: mit Eltern-, Gatten- und Kinderliebe, mit Nachbarschaft, Freundschaft, aber auch mit Verlassens- und Todeserfahrungen – eingebettet in institutionelle Kommunikationsbereiche des Berufs- und Freizeitlebens: Berufe, Ämter, Vereine, Hobbys, Kommune, Staat, Politik.

 

4.   Heimat ist  >>>  Leben und Handeln:

„Heimat“ ist in der modernen, offenen Zivilgesellschaft, auch im globalen Maßstab, das geografische, sprachliche und emotionale Lebenszentrum eines jeden Menschen, wobei dieses Zentrum im Verlauf eines Lebens weiterwandern kann. Das Lebenszentrum wählt sich der Mensch im Laufe seines Lebens jeweils freiwillig oder durch die Umstände der Punkte 1 bis 3 mitbestimmt.

 

Es gibt also, so meine ich, diese vier Dimensionen von Heimat: vom „Ort“ über die „Sprache“ zum Menschen im „Du, Ich, Wir“ und zum Lebensmittelpunkt im „Leben und Handeln“. Der Geburtsort ist dabei tatsächlich wohl eher nebensächlich für das Gefühl von „Heimat“ geworden, auch wenn es immer noch einige wenige glückliche Menschen geben mag, für die alle vier Dimensionen von Heimat für ein und denselben Ort von der Geburt bis zum Tod gelten können. Aber nachdem das schlimme 20. Jh. Millionen von Menschen aus ihren Geburts- und Heimatorten vertrieben hat, wird wohl auch das 21. Jh. mit den sich andeutenden Millionen von Asyllanten, Emigranten und Verfolgten in aller Welt, die ja auch schon an die Grenzen der EU anbranden, ein  dauerhaftes Heimatgefühl häufig nicht mehr mit dem Geburtsort verbinden können.

 

Dennoch bleiben „Ort“ und „Sprache“ die wichtigsten äußerlichen Faktoren für die Entwicklung von „Heimat“.

 

So, das war also hier am Schluss noch einmal eine dichte, abstrakte Zusammenfassung meines Vortrags und meines Verständnisses von „Heimat“.

 

Man – ik will hopen, dat ik ok ´n heel Bült konkret van mien Läben un van „mien dree Heimaten in Norddüütschland“ vertellt hebb.

 

Besten Dank för dat liedsame, gedüldige Tohöörn!

 

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Folien:

 

1.      Gedicht: Eichendorff „O Täler weit, o Höhen“ / Pompe: Pommernlied

2.      Gedicht: Brecht „Radwechsel“

3.      Postkarte Utlandshörn

4.      Gedicht: Rilke „Abend in Skane“

5.      Dialekt-Karte Deutschland

6.      Gedicht: Reuter „Eikbom...“

7.      Vier Aspekte von Heimat

Joseph von Eichendorff

(1788 - 1857)

 

ABSCHIED

 

O Täler weit, o Höhen,

o schöner, grüner Wald,

du meiner Lust und Wehen

andächtger Aufenthalt!

Da draußen, stets betrogen

Saust die geschäft’ge Welt,

Schlag noch einmal die Bogen

Um mich, du grünes Zelt!

 

Wenn es beginnt zu tagen,

Die Erde dampft und blinkt,

Die Vögel lustig schlagen,

Dass dir dein Herz erklingt,

Da mag vergehn, verwehen

Das trübe Erdenleid,

Da sollst du auferstehen

In junger Herrlichkeit!

 

Da steht im Wald geschrieben

Ein stilles, ernstes Wort

Von rechtem Tun und Lieben,

Und was des Menschen Hort.

Ich habe treu gelesen

Die Worte schlicht und wahr,

Und durch mein ganzes Wesen

Ward’s unaussprechlich klar.

 

Bald wird ich dich verlassen,

Fremd in der Fremde gehen.

Auf buntbewegten Gassen

Des Lebens Schauspiel sehn;

Und mitten in dem Leben

Wird deines Ernsts Gewalt

Mich Einsamen erheben,

So wird mein Herz nicht alt.

 

Gustav Adolf Reinhard Pompe

(1831 – 1889)

 

POMMERNLIED

 

Wenn in stiller Stunde Träume 

mich umwehn,

Bringen frohe Kunde Geister

ungesehn,

Reden von dem Lande meiner

Heimat mir,

Hellem Meeresstrande, düsterm

Waldrevier.

eiße Segel fliegen auf der blauen

See,

Weiße Möwen wiegen sich in

 blauer Höh’,

Blaue Wälder krönen weißer

Dünen Sand:

Pommernland, mein Sehnen ist dir zugewandt.

Aus der Ferne wendet sich zu mir mein Sinn,

Aus der Ferne sendet trauten Gruß er hin.

Traget, laute Winde, meinen Gruß und Sang,

Wehet leis’ und linde, treuer Liebe Klang!

Bist ja doch das eine in der ganzen Welt,

Bist ja mein, ich deine, treu dir zugesellt;

Kannst ja doch von allen, die ich je gesehn,

Mir allein gefallen, Pommernland,
 so schön!

(...)

 

Bertolt Brecht

(1898 – 1956)

 

Radwechsel

 

Ich sitze am Straßenhang.

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel

Mit Ungeduld?



 

 Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

ABEND IN SKANE

 

Der Park ist hoch. Und wie aus einem Haus

tret ich aus seiner Dämmerung heraus

in Ebene und Abend. In den Wind,

denselben Wind, den auch die Wolken fühlen,

die hellen Flüsse und die Flügelmühlen,

die langsam mahlend stehn am Himmelsrand.

Jetzt bin auch ich ein Ding in seiner Hand,

das kleinste unter diesen Himmeln. – Schau:

 

Ist das Ein Himmel?:

Selig lichtes Blau,

in das sich immer reinere Wolken drängen,

und drunter alle Weiß in Übergängen,

und drüber jenes dünne, große Grau,

warmwallend wie auf roter Untermalung,

und über allem diese stille Strahlung

sinkender Sonne.

 

Wunderliches Blau,

in sich bewegt und von sich selbst gehalten,

Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten

und Hochgebirge vor den ersten Sternen

und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,

wie sie vielleicht nur Vögel kennen...

 

Fritz Reuter (1810 – 1874)

 IK WEIT EINEN EIKBOM...

 

Ik weit einen Eikbom, de steiht an de See,

De Nurdstorm, de brus’t in sin Knäst;

Stolt reckt hei de mächtige Kron in de Höh,

So is dat all dusend Johr west;

       Kein Minschenhand,

       De hett em plan’t;

Hei reckt sik von Pommern bet Nedderland.

 

Ik weit einen Eikbom vull Knorrn un vull Knast,

Up den’n fött kein Bil nich un Äxt.

Sin Bork is so rug, un sin Holt is so fast,

As wir hei mal bannt un behext.

Nicks hett em dahn;

Hei ward noch bestahn,

Wenn wedder mal dusend von Johren vergahn.

(...)

 

„Un doch gräunt so lustig de Eikbom up Stun’ns,

Wi Arbeitslüd’ hewwen em wohrt;

De Eikbom, Herr König, de Eikbom is uns’,

Uns’ plattdütsche Sprak is ’t un Ort.

Kein vörnehm KunstHett s’ uns verhunzt,

Fri wussen s’ tau Höchten ahn Königsgunst.“

 

 

Heimat

(in der „Offenen Gesellschaft“ des 21. Jhs.)

 

1.   Heimat ist  >>>  Ort:

„Heimat“ kann immer nur ein erlebter geographischer Ort sein (oder in zeitlichen Lebens-Abständen auch mehrere Orte), der von mir – unter Berücksichtigung der anderen drei Aspekte – frei gewählt, aber auch nur akzeptiert und im günstigsten Falle auch geliebt werden kann. Dieser Ort muss nicht der Geburtsort sein.

 

2.   Heimat ist  >>>  Sprache:

Der jeweilige „Heimat-Ort“ ist stets mit einer individuellen Sprachfärbung verbunden, die von der Standardsprache dominiert und doch regional und dialektal unterlegt sein kann. Das bezieht sich besonders auf die mündliche Umgangssprache.

 

3.   Heimat ist  >>>  Du, Ich, Wir:

„Heimat“ ist immer verbunden mit Aufbau, Entwicklung und auch Veränderung in familiären und freundschaftlichen Lebens-Nahbereichen: mit Eltern-, Gatten- und Kinderliebe, mit Nachbarschaft, Freundschaft, aber auch mit Verlassens- und Todeserfahrungen – eingebettet in institutionelle Kommunikationsbereiche des Berufs- und Freizeitlebens: Berufe, Ämter, Vereine, Hobbys, Kommune, Staat, Politik.

 

4.   Heimat ist  >>>  Leben und Handeln:

„Heimat“ ist in der modernen, offenen Zivilgesellschaft, auch im globalen Maßstab, das geografische, sprachliche und emotionale Lebenszentrum eines jeden Menschen, wobei dieses Zentrum im Verlauf eines Lebens weiterwandern kann. Das Lebenszentrum wählt sich der Mensch im Laufe seines Lebens jeweils freiwillig oder durch die Umstände der Punkte 1 bis 3 mitbestimmt.